
In der Szene war Paula eine Legende. Ihre Graffiti zierten die verborgenen Ecken der Stadt – verlassene Fabriken, stillgelegte Gleise, U-Bahn-Schächte. Jedes Werk war ein Ausdruck ihres „Ich’s“, ein stummer Protest gegen die Tristesse, gegen typisch städtisches Grau, gegen die Eintönigkeit des Alltags. Wie für alle talentierten Graffiti-Künstler waren Fassaden für sie Leinwände. Eine Einladung die Stadt mit Leben und Farben zu füllen. Nicht immer legal.
Entgegen den atemberaubenden Graffitis, Auftragsarbeiten, entstand ihre Kunst, wenn sich die Stadt zur Ruhe bettete. Eine vergängliche Kunst. Eine Kunst, die forderte. Eine Stadt, die sich werte. Die Freiheit, die Paula in den versteckten Winkeln der Stadt einst verspürte, drohte zu verschwinden.
An Versprechen der Politik für die Szene eine Area zu schaffen, der legal genutzt werden durfte, glaubte Paula nicht mehr. Nicht genügend Renommee. Auch wenn seit 2019 mehr als 100.000 Euro vom Heimatministerium bereit standen. Die zehn bis zwölf Wände die „Wall of Fame“ unterhalb des Ossis an der Mindener Straße wurden nicht gebaut.
Also Untergrund: Ein Tunnel war ihr besonders wichtig. Der Fußgängertunnel zwischen Albrecht-Delius-Weg und Hochstraße entsprach ihrer Art. Dieser Tunnel hatte Geschichte. Hier fühlte sich Paula inspiriert, Werke zu schaffen die anregten, aufregten und bewegten. Der Tunnel war ihr Rückzugsort und Dialogfeld. Gut siebzig Künstler kannte die Bielefelder Szene. Sie hinterließen hier ihre Botschaften in Form von kleinen „Tags“ und aufwendigen Bildern.


Seit einiger Zeit beschlichen Paula gemischte Gefühle gegenüber dem Ort, dem sie so viel Zeit widmete. Die Wände des Tunnels waren immer lebendig, aber nun überlagerte ein neues, riesiges Wandbild fast alles, was dort vorher existierte. Es war ein Auftragswerk der Stadt und „stadtklar e.V.“, beeindruckend in Größe und Detail, doch es ließ wenig Raum für die freie Kunst, die diesen Ort einst prägte.
Paula bewunderte das Werk, doch gleichzeitig verspürte sie einen kleinen Stich im Herzen. Viele ihrer eigenen Graffitis, die sie über Jahre hinweg an diesen Wänden hinterlassen hatte, waren von der offiziellen Auftragsarbeit übermalt worden. Die Wände, die früher den Geschichten der Underground-Künstler gehörten, waren jetzt Teil eines großen, kostspieligen Projekts.
Wieder saß Paula am Eingang des Tunnels, betrachtete das riesige Kunstwerk und grübelte. Es war zweifellos beeindruckend – die Farben, die Details. Aber Paula vermisste die Freiheit, die dieser Ort einst verkörperte.
„Na, was denkst du, Peanut? „Ist das hier noch ein Teil von uns?“, murmelte sie, während sie ihrem Frettchen über die weichen Ohren strich. „Ist das hier noch unser Ort?“ Peanut blickte auf, als ob er ihr antworten wollte. Für Paula fühlte es sich so an, als ob dieser Teil der Stadt, der einmal ihr und anderen Künstlern gehört hatte, verloren war.

Das neue Kunstwerk war großartig, aber es war nicht das Ende. Sie konnte es nutzen. Paula nahm ihre Spraydosen und schaute auf Peanut, der längst wieder in Ihrem Rucksack verschwunden war. Stets auf der Suche nach einer Erdnuss – was sonst „Wie wär’s, wenn wir heute Nacht etwas Neues versuchen?“ Sie wusste, dass sie nicht gegen das riesige Wandbild arbeiten wollte, sondern mit ihm. Kleine Details könnten sie hinzufügen, versteckte Botschaften, die nur für diejenigen sichtbar wären, die genau hinschauten.
Die Vorfreude folgte ihr immer tiefer in den Tunnel. Schwoll an während Paula begann, Farbe aufzutragen. Keine großen Veränderungen, nur winzige Details – ein kunstvolles Schriftzeichen hier, ein kecke Grimasse dort, und ein geheimnisvolles Symbol, das nur die Eingeweihten verstehen würden. So fand sie einen Weg, ihre Kunst mit dem offiziellen Werk zu verbinden, es zu ergänzen, anstatt es zu zerstören.

Die Stunden vergingen schnell, und als die Morgendämmerung anbrach, hatte Paula das neue Wandbild auf ihre Weise dazu gebracht mit ihr in den Dialog zu treten. Es war ein stiller Protest, aber auch ein Zeichen dafür, dass Kunst niemals festgehalten oder besessen werden konnte. Selbst das schönste und teuerste Werk war nur eine Momentaufnahme.
In den letzten Jahren war die Stadt zunehmend bemüht, ihre öffentlichen Räume zu verschönern. Auf den ersten Blick schien das ein gutes Zeichen zu sein: Kunst sollte mehr Raum bekommen. Doch Paula und viele andere Künstler sahen die dunkle Seite dieser Bewegung. Ihre Werke, die sie nachts in stundenlanger, riskanter Arbeit erschufen, wurden systematisch übermalt, ersetzt durch sterile, politisch korrekte Kunstwerke, die zwar gefällig waren, aber ohne Seele. Nichtssagend, bunt für jedermann.
Mit Peanut in ihrer Tasche würde sie auch weiterhin durch die Stadt ziehen, neue Orte entdecken und ihre Kunst hinterlassen, dafür sorgen, dass ihre Stimme darin nie verstummte. Egal, wie viele offizielle Kunstprojekte die Stadt förderte – Paula wusste, dass die Straßen Bielefelds immer Platz für ihre Graffiti haben würden für immer neue Geschichten, die erzählt werden mussten.