
Tage wie dieser: Für die meisten Menschen in Bielefeld begann in wenigen Stunden ein gewöhnlicher, ein typischer Montagmorgen. Unsere Kaffeetante liebte das Zwielicht des Morgengrauens ebenso wie die Blaue Stunde. Die heiligsten Stunden des Tages. Mit Blick auf das Battig-Haus, das 1680 erbaute Bürgerhaus, am Alten Markt genoss sie die „leisen Stunden“ in ihrer leicht kitschig, nostalgischen Küche. Weit vor dem ersten Hahnenschrei füllte sie Kaffeebohnen in Großmutters Kaffeemühle und schwelgte im Aroma der von Hand gemahlenen Bohnen. Für eilige Momente in ihrem Leben besaß sie eine in die Jahre gekommene elektrische Kaffeemühle, die, laut wie ein Rasenmäher, aber zuverlässig ihren Dienst tat.
Doch dem Star des Tages und Highlight dieses Morgens begegnete sie vielleicht mit Ehrfurcht aber auf jeden Fall mit Respekt. Darum also Handarbeit. Frisch gemahlener Filterkaffee aus brasilianischen Bohnen mit Noten von Schokolade und Vanille. Ihre Lieblingstasse mit Hummeldekor stand bereit. In weiser Voraussicht und Vorfreude auf den Wochenstart hatte sie sich am Samstag extra ein sündhaft leckeres Stück Cheesecake mit Blaubeeren aus dem Café in der Bielefelder Kunsthalle mitgebracht.
Wie so oft im Licht der Morgenröte sann sie der Legende nach,
es hätte hier vom einstigen „Butterkeller Jacke“ aus einen Geheimgang gegeben, der
vom Battig-Haus bis zur Sparrenburg führte. Offiziell tippte sich bei diesem Thema
jeder an die Stirn. Doch Legende bleibt Legende. Andere vermuten allerdings
diese Verbindung zur Burg in der Neustädter Marienkirche. Wäre ja auch doof,
wenn es zum Keller des Bankhauses Lampe einen Gang gäbe, den nur Dagobert und
die Panzerknacker kennen, erklärte sie Hugo.
Auf der tiefen Fensterbank zog Hamster Hugo seine Schnauze aus einem Schlafnest voll Erdnussschalen und Watte. Von so viel Aktionismus genervt, blinzelte er seine Mitbewohnerin durch das Plexiglas an, als wollte er sagen: „Muss das jetzt sein?“ Er war ein Langschläfer. Hamster müsste man sein.

Als leidenschaftlicher Filterkaffee-Junkie verstand sie etwas von dolce Vita und carpe diem. Die Küche füllte sich zunächst zögerlich dann immer intensiver mit einem warmen, schokoladigen Duft. Betörend. Ein Hauch von Schokolade, Vanille und gerösteter Nussigkeit lagen in der Luft. „Wenn man diesen Duft, diese Verheißung, nur einfangen könnte!“ Fast schon feierlich sog sie das Aroma tief ein und musste husten. Kaffeestaub in der Luftröhre bleibt gewöhnungsbedürftig.
Mit einer beinahe andächtigen Ruhe schüttete sie frisch gemahlenes Kaffeepulver in den Filter, goss im Schwall heißes Wasser über das braune Gold und beobachtete, wie sich das Wasser langsam und unaufhaltsam einen Weg durch das Kaffeepulver bahnte und in die Kanne zu tropfen begann. Ein Rinnsal der Verheißung. Immer wieder ergoss sich ein Schwall Wasser in den Filter. Es war, als würde die Zeit stehen bleiben – nur sie, der Kaffee und der Duft von Schokolade und Vanille.

Der saftiger Cheesecake aus dem Café Manhattan raunte ihr zu, sie möge sich doch bitte beeilen. „absolut hip und mega lecker“. Endlich! Sie nahm Platz und schnitt sich ein großzügiges Stück ab. Denn sein wir mal ehrlich: Alles unter 300 Gramm ist ein Keks.
Voller Vorfreude balancierte sie eine Winzigkeit dieser Köstlichkeit auf ihrer Gabel, bereit der Sünde nicht länger zu widerstehen. Genau in diesem Moment klingelte es. Verdutzt schaute sie auf ihr Smartphone, das jetzt zu blinken begann. Es war ihre Nachbarin, die sie immer auf dem Laufenden hielt über die Neuigkeiten im Haus – ob sie wollte oder nicht. Schweren Herzens stellte sie die Hummeltasse beiseite und nahm ab. „Hast du schon gehört, dass Herr M seine Orchideen schon wieder in den Gemeinschaftskeller gestellt hat?“, hörte sie die vertraute ochsenfroschartige Stimme. Innerlich betete sie für ein schnelle Ende.
Endlich! Genussvoll schloss sie die Augen. Der Kaffee, der Cheesecake –dieser Moment der Ruhe. Mit der ersten Gabel voll Käsekuchen und dem ersten Schluck des brasilianischen Filterkaffees trafen ihre Geschmacksknospen das Paradies – oder zumindest ein sehr leckerer Vorgeschmack darauf. Der erste Schluck ist wie eine Entdeckungstour: Zuerst spürt man die leichte Bitterkeit, die einen sofort an dunkle Schokolade oder frisch geröstete Mandeln erinnert. Dann breitet sich die Säure sanft aus, fruchtig oder blumig, je nach Sorte und Herkunft der Bohnen, und verleiht dem Geschmack Leichtigkeit. Die natürliche Süße im Hintergrund, subtil und fast karamellig, rundet das Aroma ab und bringt das Getränk in eine harmonische Balance.
Das Mundgefühl variiert mit jeder Tasse. Ein kräftiger Espresso kann voll und samtig auf der Zunge liegen, während ein milder Filterkaffee eher klar und leicht wirkt. Jeder Schluck ist ein kurzer Moment des Innehaltens, der Geist und Körper belebt und gleichzeitig beruhigt. Die Wärme des Kaffees breitet sich sanft aus, entspannt und gibt Energie für den Tag. Kaffee zu genießen bedeutet, sich eine Pause vom Alltag zu gönnen. Für manche ist es ein Ritual, für andere ein Moment der Inspiration. Es ist nicht nur ein Getränk, sondern ein Moment, in dem Zeit und Geschmack sich vereinen.

Noch während ihr Gaumen den fein abgestimmten Nuancen nachspürte, vernahm sie ein flüchtiges Scharren. Hamster Hugo hatte sich auf das Dach seiner Behausung vorgearbeitet und streckte seine winzige Nase neugierig in die Luft. Auch er hatte den Duft des Cheesecakes gewittert! Im Bruchteil einer Sekunde sah sie, wie Hugo seinen Ausbruch plante. Mit einem beherzten Satz sprang er auf den Tisch und schob mit seinem kleinen Leib die Hummeltasse an.
Es passierte wie in Zeitlupe: Der dampfende Kaffee schwappte und ergoss sich mit einem Schwall über das Cheesecake-Stück. Sie konnte nur staunend zuschauen, während ein Teil ihres Kaffees zu einem Soßenklecks auf dem Kuchen wurde. Kaffee statt Fruchtspiegel – auch eine Idee. „Na gut, Hugo“, sagte sie und stupste ihn freundlich mit dem Finger. „Dann ist es heute halt Kaffee-Cheesecake à la Hamster. Probieren wir mal ob uns die Kreation schmeckt!“